Als 20-jähriger Surrealist wurde ich eines Tages fromm. Ich fand in einer theologischen Deutung der Bibel, die keine Zweifel kannte, Antworten, Gewissheiten auf meine Sehnsüchte nach Liebe, Sinn und Zukunft. Ich wurde durch einen charismatischen Prediger erlöst von meinen nagenden Fragen.
Weitere zwanzig Jahre später bekehrte ich mich erneut. Ich wollte herausfinden, was es sonst noch zu meinem Leben und zu dieser Welt zu sagen und zu erleben gibt.
Am 8. August 1997 notierte ich in Someo (im Maggiatal) den folgenden Text. Wenn ich meine alten Texte von damals wieder lese und erneut denke, werden sie wieder lebendig. Ich werde angeregt in meinem Unterwegssein. Beharrlich suche ich nach eigenen Deutungen meiner Lebenswelt und Erfahrungen. Ab und zu zeigt sich Erstaunliches. Beispielsweise, dass die eigenen Gedanken nicht einfach veralten und den Geschmack verlieren wie zu alte Konfitüre, sondern eine anregende, befruchtende Qualität zeigen. Es gibt sowas wie Upcycling der eigenen Gedanken. Scheinbar nutzlos gewordene Stoffe (Gedanken) werden in neuwertige Produkte (Einsichten) umgewandelt. Es kommt zu einer Aufwertung.
Someo, 8. August 1997: «Die unlösbaren, grossen Fragen bewegen mich und ziehen mich in die Abenteuer des Erforschens und Entdeckens, was mein Leben sein kann. Die uralten Fragen wie: Wer hat die Welt, den Kosmos, wer hat mich ins Leben gerufen? Wo gehe ich hin, wenn ich sterbe?
Oft verspüre ich den Wunsch nach einer endgültigen, sicheren Antwort. Würde das der Unruhe abhelfen, die diese Fragen mit sich bringen? Aber die Fragen sind unlösbar! Würden sie sich wie ein Stück Zucker im Wasser lösen, wären sie bald fortgespült.
Glückerweise gibt es das unlösbare Gestein dieser ewig alten und jungen Fragen. Sie verbreiten Lebendigkeit, Bewegung, Frische, oft auch Melancholie. Sie bringen Freude und Schmerzen. Es ist immer nur beides zu haben. Wer diese Fragen mit Dogmen zudeckt und sie begräbt, der versteinert, wird zum Fossil. Fossilisiert. Existenzielle Tranquilizer sind nebenwirkungsreich und führen zu Einengungen und Wahrnehmungsverlusten.
Die Fragen im Leben zu behalten ist anstrengender. Aber wer diese Anstrengung nicht auf sich nimmt, der verweigert sich dem Drama des Lebens. Er erstarrt, ist theologisch oder ideologisch ruhiggestellt, erlebt weder Freude noch Schmerzen.
Mich beeindruckt, wie viele Menschen diese existenziellen Fragen angenommen haben und in grosse Such-Abenteuer des Lebens hineingeraten sind.»